Der Rosenstock
1
„Was haben Sie bloß für einen schönen Rosenstock neben Ihrer Haustüre stehen!“, sagte Greta Prieseck in gespielt begeistertem Tonfall.
„Er ist wirklich schön“, gab die Besitzerin des Gewächses zurück.
Maria Schinner war zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt und seit vier Jahren mit Georg Schinner, einem erfolgreichen Handelsvertreter, verheiratet.
„Beinahe so schön wie Sie“, sinnierte Greta, die unangemeldet auf Tee und Gebäck vorbeigekommen war, wie sie es stets machte. „Manfred Windisch hat Ihnen diesen Stock zum Geschenk gemacht, habe ich recht?“, fragte sie mit listigem Blick in ihren Augen.
Sie war eine Frau von achtundfünfzig Jahren und hatte alle jungen Frauen des Dorfes im Verdacht, dass sie sich bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen böte, unmoralisch benahmen. Das Verwelken ihrer eigenen Schönheit und das Schwinden ihrer Anziehungskraft auf die Männer nahm sie sehr wohl wahr, und es schmerzte sie. Die einzige Möglichkeit sich von dieser unleugbaren Tatsache abzulenken, bestand in ihren Augen im Konzentrieren auf kleine Ausrutscher oder Techtelmechtel der jüngeren Dorfbewohnerinnen.
Maria errötete leicht, doch zögerte sie ihre Antwort nicht hinaus.
”Ja, ich habe ihn von Manfred Windisch, Miss-“, sie stockte.
Den jungen Menschen im Ort war keineswegs entgangen, dass Greta Prieseck ihre Nase vorzugsweise in Dinge steckte, die sie nichts angingen. Sie waren dazu übergegangen, von Greta bloß als Miss Marple zu sprechen.
”Wie?“, Greta hob erstaunt die Augenbrauen. “Haben Sie mich eben Miss genannt?“
”Bitte verzeihen Sie, Frau Prieseck“, sagte Maria schnell. ”Wissen Sie, bevor Sie geläutet haben, habe ich mir einen Film in englischer Sprache angesehen. Deshalb ist mir dieses Missgeschick wohl unterlaufen. Aber um Sie ins Bild zu setzen: Manfreds Mutter hat, wie Sie sicherlich wissen, viele Rosenstöcke. Dieser eine, der vor meiner Haustüre steht, wuchs in einer Ecke des Windisch-Gartens, die nun einem Zierteich Platz bietet. Um zu verhindern, dass der schöne Stock kompostiert wird, hat Manfred ihn vor meiner Haustüre eingegraben.“
Sie seufzte.
Das war eine glatte Lüge.
Georg, Marias Ehemann, war als Vertreter nur deshalb so erfolgreich, weil er ständig unterwegs war. Es kam oft vor, dass er drei Wochen nicht zu Hause war, und Maria fühlte sich einsam. Sie war eine schöne Frau mit einem liebreizenden Wesen, doch nachdem sie weder einer Arbeit nachging, außer der im Haus, noch Kinder hatte, befiel sie schnell das Gefühl der Langeweile.
Manfred Windisch war ein überzeugter Junggeselle gewesen und entstammte einer der reichen Familien des Dorfes. Seit anderthalb Jahren war er tot.
Er hatte den schönsten Rosenstock seiner Mutter einfach ausgegraben, um ihn Maria zu schenken. Sie hatten sich beinahe jeden Tag gesehen, wenn Georg auf Reisen war. Zwar hatten sie ihre Affäre so gut es ging geheim gehalten, doch den Argusaugen von Greta Prieseck war nicht entgangen, dass Manfreds Wagen oft in der Einfahrt der Schinners parkte.
Eines Tages hatte Manfred Maria seine Liebe gestanden. Er hatte dabei nicht gekniet, hatte nicht um ihre bereits vergebene Hand angehalten - er hatte sie bloß gebeten, ihn bei sich schlafen zu lassen. Maria hatte entrüstet reagiert. Die Affäre wäre auf diese Weise offiziell geworden und Georg hätte davon erfahren. Sie hatte Furcht vor seiner Reaktion, wollte außerdem ihr bequemes Auskommen nicht gefährdet sehen, also wies sie Manfreds Ansinnen mit rüden Worten zurück und brach die Verbindung zu ihm ab.
In den Wochen, die auf diese Szene folgten, versuchte er immer wieder an sie heranzukommen, doch stets wies sie ihn ab. Briefe an sie, die sie hätten umstimmen sollen und die er auf die Dornen des Rosenstocks spießte, zerriss sie, ohne sie gelesen zu haben.
Manfreds Verzweiflung wuchs beständig, und eines Tages kehrte er von einem Jagdausflug nicht mehr zurück. Er wurde auf dem Boden liegend gefunden, seine Flinte lag noch auf seinem Körper und in seiner Tasche steckte ein Brief. Darin nannte er als Grund für seinen Freitod die unerwiderte Liebe zu einer Strohwitwe und verwünschte sich selbst dafür, ihr den besten Rosenstock seiner Mutter geschenkt zu haben.
Die Sache kam Georg Schinner zu Ohren und er fragte seine Frau nach den wahren Umständen, unter welchen der Rosenstock auf sein Grundstück gekommen war.
Maria erzählte ihm, dass sie die Affäre selbst beendet hätte, denn sie hätte erkannt, dass sie nur ihn, Georg, lieben würde. Er vergab ihr, und diese Affäre sollte viele Jahre lang kein Thema sein.
Maria Schinner sorgte gut für den Rosenstock, jedoch ohne Emotionen in diese Pflege zu legen. Für sie war er bloß ein schönes Gewächs, das ein Verflossener gepflanzt hatte.
2
Maria, inzwischen neunundzwanzig Jahre alt, saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und blätterte in einer Illustrierten, als sie plötzlich die Schreie ihrer fünfjährigen Tochter Claudia vernahm. Sie sprang auf und lief nach draußen, von wo die Schreie kamen.
Claudia lag auf dem Rosenstock, dessen Stamm sich unter dem Gewicht des Kindes leicht gebogen hatte. Claudias weißes Sommerkleidchen wehte in der leichten Brise wie ein Fähnchen von Unschuld.
„Mami, Mami, mein Gesicht!“, wimmerte sie, als sie der Anwesenheit ihrer Mutter gewahr wurde.
Maria stand neben ihrem Kind und fragte: „Warum hebst du dein Gesicht denn nicht vom Stamm, Claudia?“
„Weil es so weh tut!“
„Ich helfe dir“, sagte Maria, fasste Claudias Kopf an den Seiten und zog ihn mit einem Ruck zu sich.
Das Kind schrie auf und hielt sich das linke Auge zu. Zwei Kratzer von den Dornen waren auf Claudias Wange zu sehen - nicht weiter schlimm, die würden heilen, befand Maria. Doch das Auge machte ihr Sorgen.
Sie redete beruhigend auf ihre Tochter ein und schließlich ließ diese den Arm sinken. Maria erschrak. Ein Dorn ragte aus dem stark blutenden Auge.
„Bleib hier stehen, Claudia“, sagte Maria. „Ich hole die Autoschlüssel. Berühre dein Auge aber auf keinen Fall!“
Sie eilte ins Haus.
Während der Fahrt ins nächstgelegene Krankenhaus weinte und wimmerte Claudia unablässig.
„Ich werde blind sein auf dem Auge, Mami!“, greinte sie.
„Nein Claudia, das wirst du nicht! Der Doktor holt den Dorn heraus und in ein paar Wochen siehst du wieder wie ein Adler. Versprochen!“
„Frau Schinner, Ihre Tochter bleibt auf dem linken Auge blind“, sagte der diensthabende Arzt. „Es tut mir leid.“
„Aber - aber - warum?“, stammelte Maria.
„Was ist geschehen? Wohinein ist Claudia gefallen?“
„Auf unseren Rosenstock.“
„Sind Sie sicher, dass es ein Rosenstock war?“
„Natürlich!“, rief sie. „Ich habe meine Tochter doch darauf liegen sehen!“
„Nun“, sagte der Arzt und hielt ihr einen Dorn in einem durchsichtigen Plastikröhrchen vors Gesicht. „Vier Zentimeter und drei Millimeter“, stellte er fest. „Ich habe, um ehrlich zu sein, noch nie Rosen gesehen, die derart lange Dornen tragen.“
Maria nahm das Röhrchen und starrte ungläubig auf den Pflanzenteil, der Claudia das Licht ihres linken Auges geraubt hatte.
„Ich auch nicht“, sagte sie leise.
Nachdem sie ihrer Tochter im Krankenhaus Mut zugesprochen und sie getröstet hatte, fuhr sie nach Hause und sah sich den Rosenstock genau an. Sie betrachtete jeden einzelnen Dorn eingehend und stellte fest, dass es der längste auf eine Länge von gerade einmal anderthalb Zentimeter brachte.
Greta Prieseck, die lautlos das Gartentor geöffnet und sich hinter Maria geschlichen hatte, flüsterte mit einer Stimme, die sie erkennen ließ, dass die Alte eine Gänsehaut hatte: „Ich habe eine Nichte im Krankenhaus - sie hat mir erzählt, was Ihrer Tochter zugestoßen ist. Es tut mir sehr leid.“
Maria wandte sich um und sagte: „Vielen Dank, Frau Prieseck.“
Plötzlich packte Greta Maria an den Schultern und rief mit weit aufgerissenen Augen: „Es war der Stock! Es war Manfred Windischs Rosenstock!“
Maria blickte sie entgeistert an, dann lachte sie und sagte: „Ach, Miss Marple, verschwinden Sie von meinem Grundstück!“
Nach zwei Wochen wurde Claudia entlassen.
In den ersten Tagen fand sie sich ob der veränderten Dimension ihrer Sicht nur schwer im Haus zurecht. Sie weinte oft, fühlte sich minderwertig und verweigerte das Spielen mit anderen Mädchen ihres Alters. Anstatt sich durch Spiele körperlich zu betätigen, saß sie die meiste Zeit stumm auf dem Sofa oder ihrem Bett und stopfte eine Unmenge Süßigkeiten in sich hinein, die ihr ihre Eltern, die sie bemitleideten, beinahe täglich kauften.
3
„Hast auch du gerade etwas gehört?“, fragte Georg Schinner.
„Nein“, gab Nicole Weingrat zurück. „Was sollte ich denn gehört haben?“
„Mir war, als hätte jemand eine Autotüre zugeschlagen.“
Nicole erschrak. „Doch nicht etwa deine Frau?“
„Ich weiß es nicht. Besser, wir ziehen uns an.“
„In Ordnung. Wo ist mein Höschen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht unten in der Küche?“
„Das ist jetzt egal, Nicole! Geh nach Hause. Ich weiß nicht, wer gerade vorgefahren ist.“
„Und mein Höschen?“
„Vergiss es! Ich werde es finden und dir geben. Geh jetzt! Nimm die Hintertüre.“ Er küsste sie. „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Bis bald.“
Maria Schinner war aus ihrem Auto gestiegen und hatte die Autotüre zugeknallt.
Dann stand sie neben dem Wagen und atmete tief durch. Sie hatte gerade ihre fünfzehnjährige Tochter Claudia in einem privaten Sanatorium besucht. Claudia war dorthin gebracht worden, weil sie ihre Situation nicht mehr ertragen konnte.
Die Tatsache, dass sie auf einem Auge blind war, hatte sie ihr Leben im Laufe der Jahre immer wertloser erscheinen lassen. Sie hatte die Schule abgebrochen, denn dort war sie wegen ihrer einhundertzwanzig Kilogramm Körpergewicht ständig gehänselt worden. Sie hatte ihren Kummer mit einer nur noch größeren Menge Süßigkeiten zu bedecken versucht, doch ohne Erfolg. Schließlich hatte sie begonnen, sich selbst zu verletzen - da war es ihren Eltern zu viel geworden und sie hatten sie ins Sanatorium gebracht.
Claudia erhielt dreimal die Woche Besuch von ihrer Mutter, von ihrem Vater wurde sie besucht, wann immer dessen Zeit es zuließ.
Nachdem Maria etliche Male tief durchgeatmet hatte, ging sie zur Haustüre und steckte ihren Schlüssel ins Schloss. Wie um nach der niederdrückenden Erfahrung, ihre Tochter in der Psychiatrie besuchen zu müssen, etwas Schönes zu sehen, wandte sie sich um und blickte auf den Rosenstock.
Auf diesem hing ein Höschen, dessen rote Farbe sich deutlich von den weißen Blüten abhob.
Sie ging zum Stock, beäugte den Slip, stellte fest dass er nicht ihr gehörte, riss ihn herunter und stürmte ins Haus.
Wütend stellte sie ihren Mann zur Rede.
„Was willst du?“, gab der lakonisch zurück. „Sieh dich an! Du bist dick geworden in den letzten Jahren. Da sollte es dich nicht verwundern, dass ich mir eine junge Geliebte geangelt habe.“
„Es sind die Sorgen, die man mir ansieht, Georg!“, sagte sie in scharfem Ton, in dem auch Verletzung lag. „Du bist nicht jeden Tag hier, mit einer psychisch kranken Tochter, die man kaum alleine lassen kann!“
Es half nichts, Georg Schinner hatte kein Einsehen. Vielmehr wärmte er die alte Affäre seiner Frau mit Manfred Windisch auf.
„Und das Beste ist: Du widmest seinem Vermächtnis mehr Zeit als mir, wenn ich einmal zu Hause bin!“
„Seinem Vermächtnis?“, fragte sie.
„Ja, dem Rosenstock!“, brüllte er. „Um ihn kümmerst du dich besser als um mich!“
Der Rosenstock! Nun begann sie zu verstehen. Er war schuld an allem.
Am Ende der Diskussion teilte Georg Maria mit, dass er die Scheidung wollte, um frei für Nicole Weingrat zu sein.
Maria war tief getroffen, doch hatte sie keine Kraft mehr, um gegen seinen Wunsch zu protestieren.
Ihr war klargeworden, dass der Rosenstock über ihr Leben bestimmt hatte. Seine weißen Blüten, die so schön anzusehen waren, hatten einen dunklen Schleier über ihrem Leben ausgebreitet, und ihr Duft hatte den Geruch des Verderbens gebracht.
Noch nie in ihrem Leben hatte Maria Schinner mit Pflanzen gesprochen, doch an diesem Abend stand sie vor dem Rosenstock und sagte: „Morgen schneide ich dich um!“
Es war windstill, und dennoch bewegte sich das Gewächs. Es neigte sich, beinahe unmerklich, einige Male nach links und rechts, dem Kopfschütteln eines Menschen gleich.
4
Am nächsten Morgen ging Maria Schinner in den Keller ihres Hauses, um ein Beil zu holen.
Zuvor hatte sie ihre Tochter über die bevorstehende Scheidung aufgeklärt, was Claudia gleichgültig aufnahm. Auf Nachfrage teilte sie ihrer Mutter mit, dass sie schon seit Jahren der Ansicht gewesen wäre, dass dieser Schritt ebenso unausweichlich wie auch richtig wäre.
Maria war erleichtert über die Antwort ihrer Tochter und teilte ihr noch mit, dass sie nun den Rosenstock entfernen würde.
Die Doppelaxt vor ihrer Brust beinahe feierlich hertragend, näherte sie sich dem Gewächs.
Sie trug festes Schuhwerk, und obwohl es weder in der Nacht noch am Morgen geregnet hatte, stürzte sie.
Bevor sie in eine der Klingen fiel, war ihr noch die Zeit gegeben, nach unten zu blicken.
Da sah sie den dicken Wurzelstrang, den der Rosenstock in der Nacht ausgebildet und über den Weg aus Waschbetonplatten hatte wuchern lassen.
Maria Schinner blieb noch Zeit für zwei Worte: „Ach, Manfred!“